Die Heilige Nikola

Ich will aber eine Schule besuchen und Lehrerin werden!“ Die Stimme von Aische Suleiman klingt Nikola noch in den Ohren.

Die Flüchtlingsfamilie Suleiman wohnt in der oberen Wohnung im Mehrfamilienhaus und stammt aus Afghanistan. Nikola hatte zunächst auch Vorbehalte, als die fünfköpfige Familie in der Hausgemeinschaft einquartiert wurde. Direkt über ihrer Wohnung. Die drei Mädchen sind bestimmt nicht immer leise. Nikola erinnert sich noch, als ihre Tochter Angelique in die Pubertät kam. Da wurde manches Mal die Tür geknallt und die Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter waren nicht immer im leisen Ton. Angelique ist schon lange ausgezogen und geht ihre eigenen Wege. Längst vergessen die Zeit, wo Nikola als alleinerziehende Mutter sich um ihre Tochter sorgte. Inzwischen hat sie sich an die Ruhe gewohnt und ist manchmal traurig, dass sie so selten von Angelique hört. Gern hätte sie auch Kontakt zu ihrer Enkeltochter Marie. Doch Angelique möchte diesen Kontakt nicht. Sie warf Nikola vor, zu träge zu sein, sich für nichts zu interessieren und nur ihre Ruhe haben zu wollen. Angelique hatte nie verstanden, dass Nikola neben Arbeit und Erziehung nie Hobbys entwickeln konnte und einfach nur froh war, wenn sie die Tür hinter sich zumachen konnte. Früher. Nikola wäre heute so gerne eine gute Oma für Marie. Mit ihr würde sie auch mal etwas unternehmen. Aber nun sollten drei Kinder in der Wohnung über ihr einziehen. Das wird bestimmt unangenehm laut werden, so vermutete sie anfangs.

Dann war es aber doch ganz anders. Herr und Frau Suleiman waren zurückhaltend und unsicher. Nikola wollte auch nicht den ersten Schritt machen. So dauerte es einen Monat, bevor Nikola sie überhaupt grüßte und noch einmal zwei Wochen, bevor sie im Flur ein Gespräch begann. Damals ging es um den regelmäßigen Putzdienst im Hausflur und Nikola hatte den Eindruck, dass Frau Suleiman sie nicht verstand.

Komme Sie bitte!“ sagte sie nur und führte sie ein Stockwerk höher zu ihrer Wohnung. Vor der Tür standen ganz viele Schuhe und Nikola war unsicher, ob sie ihre Schuhe auch ausziehen sollte. „Nein, nein, komme!“ sagte sie und führte sie in die kleine Küche. Dort lernte sie dann auch Aische kennen. Die 12-jährige war die älteste der drei Töchter und konnte schon recht gut Deutsch. Während Aische übersetzte hatte Nikola schon einen Tee vor sich stehen in einem kleinen Glas und viel Zucker. Dazu gab es kleine, in Honig getränkte Gebäckstücke. Die beiden jüngeren Mädchen Limar und Naila gesellten sich dazu und zeigten stolz das Bild aus dem Kindergarten und die ersten Buchstaben im Schulheft. Nikola war sehr berührt von dieser ersten Begegnung und erinnerte sich noch lange daran, wie schnell sie sich wohl gefühlt hatte.

Das war im August gewesen. Seitdem hatte es viele Begegnungen mit Tee gegeben. Herr Suleiman fegte sogar den Hof, wenn Nikola eigentlich dran war, und er hatte die Wohnzimmerlampe repariert, die nicht mehr angehen wollte. Die drei Mädchen hatte Nikola schnell ins Herz geschlossen, doch mit Aische kam sie am besten klar. Sie hatte eine so herzerfrischende Offenheit und konnte gut erklären und aus der Heimat erzählen. Am wichtigsten aber war, dass sie Nikola scheinbar als Ersatzoma akzeptierte. Dabei war sie so klug, dass Nikola immer behauptete, dass Aische einmal Lehrerin werde.

Doch gestern war alles anders. Als Nikola am 05.12. heimlich ein paar Süßigkeiten in die Schuhe der Kinder stecken wollte, öffnete Aische mit verheultem Gesicht die Tür. Als sie Nikola in die kleine Küche führte, saß die ganze Familie traurig da und starrte auf einen Brief. Es gab diesmal keinen Tee und keine Herzlichkeit, sondern nur traurige Augen. Aische gab Nikola den Brief. Er stammte vom Bundesamt für Migration und im Text hieß es, dass Familie Suleiman keinen Anspruch auf Asyl hätte und in den nächsten Tagen in ihre Heimat zurückreisen solle.

Nikola hatte inzwischen genug von Afghanistan gehört, um zu wissen, wie dort die Lebensverhältnisse sind. Aische hatte ihr erzählt, wie die Taliban die Schule in ihrem Dorf zerstört hatten und dass ihre Freundinnen inzwischen fast alle verheiratet wären.

Welche Zukunft würde die drei Mädchen erwarten? Nikola lag die ganze Nacht wach und musste immer an den letzten Satz von Aische denken: „Ich will aber eine Schule besuchen und Lehrerin werden!“

Aber was konnte sie schon tun? Am liebsten würde sie sich zurückziehen und einfach nur traurig auf ihrem Sofa sitzen. Die Welt war eben schrecklich und ungerecht. Es würden neue Leute einziehen und Nikola könnte ihr Leben weiterleben.

Dann dachte sie an ihre Enkeltochter Marie. Sie stellte sich vor, dass Marie solch eine schreckliche Zukunft vor sich hätte. Hatte ihre Tochter Angelique doch recht, wenn sie Nikola Bequemlichkeit vorwarf?

Nein. Es muss doch noch Hoffnung geben.

Nikola nahm sich vor, mit dem „Verein für Geflüchtete“ Kontakt aufzunehmen und für Familie Suleiman zu kämpfen, womöglich den Behörden aufs Dach zu steigen.

Und sie würde Angelique einen langen Brief schreiben, ihr von Aische und Familie Suleiman erzählen und sie um Hilfe bitten. Gemeinsam könnten sie mehr erreichen.

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