Die Heilige Martina

Martina wollte vorher noch zur Post. Eilig schritt sie durch die Eschstr. der Bünder Fußgängerzone. Es war schon dunkel. Ein Temperatursturz hatte den schönen Novembertag in eisige Kälte gehüllt. Jetzt nur noch zur Post und dann in das Restaurant zum Adler. Ihr Mann Marc hatte sie eingeladen anlässlich des zehnten Hochzeitstages. Heute wollten sie richtig fein essen gehen. Der Adler hatte sich schon einen Namen gemacht. Zwar hatte er keinen Stern, aber der Michelin Führer erwähnte dieses Bünder Restaurant zumindest schon. Es sollte alles perfekt sein. Martina hatte gefühlt Stunden vor dem Spiegel gestanden und sich für die beerenrote neue Hose entschieden. Dazu die graue Seidenbluse, die Marc so gern an ihr mochte. Perfekt wurde das Outfit für die beiden aber erst durch die in Lilatönen gehaltenen Stola, die sie auf ihrer Hochzeitsreise in Rom erstanden hatten. Sie war nicht billig gewesen, aber sie hielt gut warm in dieser Zeit. Auch Marcs Mutter Aurelia fand die Stola so toll. Nach dem Essen sollten sie bei Marcs Eltern noch auf ein Glas Wein vorbeikommen. Da konnte sie Aurelia mit ihrem perfekten Dress beeindrucken. Den kleinen Riss in der Stola hatte sie erst heute bemerkt, ihn aber geschickt verdeckt. Marc würde staunen und Martina freute sich auf diesen einzigartigen Abend.

Bei der Post ging es überraschend schnell. Die Schlange der Menschen war nur kurz und sie hatte die nette Schalterbeamtin statt den grummeligen Typen oder den Postbeamten, der gerne kompliziert und langsam Formulare ausfüllte und dabei noch so viel erzählte. „Eine beeindruckende Stola!“ sagte die Schalterbeamtin noch und nickte Martina anerkennend zu. Beschwingt ging Martina die Kaiser-Wilhelmstr hinauf am Bünder Modehaus vorbei in Richtung Restaurant.

In Höhe der Pauluskirche an der Einfahrt zum Parkplatz stand ihr plötzlich eine junge Frau im Weg. Bevor diese Martina auswich, konnte Martina noch einen Blick in ihr Gesicht werfen. Sie sah das Gesicht einer jungen Frau, die schon viel Schlimmes erlebt hat. Fast schien es Martina, als ob die dunklen Augen dieser Frau bis in ihre Seele blickten. Die Frau war viel zu dünn angezogen bei diesem Wetter und ihre Lippen hatten schon eine bläuliche Färbung. „Verzeihung“ hauchte sie und man hörte in diesem Wort den Akzent, der verriet, dass sie wohl zu den Geflüchteten gehörte, die in Bünde untergebracht waren.

Wie weit die Frau wohl noch gehen musste? In die Behringstr. oder gar bis nach Hunnebrock. So verfroren und dünn, wie sie aussah, würde sie sich bis dahin mindestens eine Erkältung holen. Von ihrer Freundin Andrea, die sich im Flüchtlingskaffe engagierte, wusste Martina, dass auch dort keine rosigen Verhältnisse herrschten. Ein heißes Bad würde die Frau wohl nicht bekommen. Andrea hatte auch erzählt, was viele Geflüchteten auf ihrer Flucht an schrecklichen Dingen erlebt hatten. Manche der Frauen würden mitten im Deutschkurs anfangen zu weinen. Und sie waren allein mitten in einem fremden Land, dessen Sprache und Kultur sie kaum verstanden. Sie sehnten sich nach der Wärme des Heimatlandes und der Wärme der Familie, die sie verlassen mussten. Sie trauerten um Angehörige und einer Heimat, die zerstört oder zu unsicher war, um weiter dort zu leben.

Martina blieb stehen und blickte zurück. Die junge Frau war kaum vorwärtsgekommen.  Selbst aus ein paar Metern Entfernung konnte man das Zittern erkennen.

Martina dachte an die wärmende Stola, die sie trug, an den Hochzeitstag, das Edelrestaurant, an ihren Mann Marc und ihre Schwiegermutter Aurelia.

Dann dachte sie an den kleinen Riss in der Stola, der es einfach machen würde, die Stola in zwei Teile zu reißen.

Martina schloss die Augen und atmete tief durch. Nach einem kurzen Augenblick der Stille rief sie der jungen Frau nach: „Warten Sie einen Augenblick“

Ulrich Martinschledde (November 2021)

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