Zur herbstlichen Zeitumstellung

Ein Beitrag von Pfarrer Wolfgang Sudkamp.

Nun ist es wieder soweit: die Zeitumstellung kommt. Wir lassen die Uhren für eine Stunde pausieren und meinen vielleicht, damit den Fluss der Zeit anzuhalten.

„Solange ich denken kann, gingen Uhren immer zu schnell“, sagte einmal die Dichterin Marie Luise Kaschnitz.

Sommerzeit / Winterzeit – so teilen wir das Jahr in zwei Hälften, so wie wir die Woche in Arbeitszeit und Freizeit scheiden. Je mehr die vier Jahreszeiten im Zeichen des Klimawandels ihren Charakter verlieren, je mehr andere symbolträchtige Tage der Vergangenheit in unserem Bewusstsein verblassen, desto mehr wird eine solche medial hervorgehobene Nacht zur Wendezeit, zum Stichtag. Das zweimalige Zeitritual in jedem Jahr ist umstritten, aber wer hat sie nicht genossen, die langen Sommerabende?

Wir greifen in die mechanische Zeitmessung ein; diese chronologisch verlaufende, vergehende Zeit haben die Griechen dem Gott Chronos zugeordnet, der die Eigenschaft hat, seine Kinder zu fressen. Ja, die Zeit frisst uns auf.

Im Frühling haben wir den Verlust einer Stunde klaglos über uns ergehen lassen; dass war nicht so unangenehm, weil die „Sommerzeit“ eine helle Zeit einläutete. Nun heißt es, die Uhren zurückzustellen, zurückzugehen aus der mitteleuropäischen Sommerzeit in die echte Sonnenzeit, aus der Sommerzeit von einer Sekunde zur anderen in die Winterzeit. Auch wenn wir einen 25-stündigen Sonntag bekommen.: Wer geht schon gerne zurück? Zurück ins Dunkle?

Mit dem Herbst fällt also über Nacht der Winter ins Land. Eine Saison, in der wir nicht mehr so unbeschwert Sonne tanken können . Die Zeitumstellung ist kein sanfter Übergang, wird auch nicht sonderlich feierlich inszeniert; sie ist ein bloßer Verwaltungsakt, von langer Hand vorbereitet. Von höherer Brüsseler Hand verfügt, greifen wir in den natürlichen Rhythmus der Zeit ein, als könnten wir Zeit anhalten oder ihr auf die Sprünge helfen.

An Silvester und an diesen beiden Jahres-Tagen der Zeitumstellung rückt uns die Uhrzeit auf den Leib. Die Zeit, die sonst geräuschlos an uns arbeitet. Anders als in der Silvesternacht blickt in dieser Nacht niemand gebannt auf den Zeiger, keiner steht mitten in der Nacht auf, um die Uhren für eine Stunde anzuhalten. Gott sei Dank – so denken wir trotz der Träume, Herren über die Zeit zu sein -, glücklicherweise geht die Zeit ungestört weiter, auch wenn die Uhren gewissermaßen für eine Stunde stehen bleiben und wir eine Stunde verschlafen dürfen. Aber ein Herzenswunsch, ein Menschheitstraum wäre das schon: einfach einmal die Uhr anhalten oder schöne Tage verlängern zu können, sie noch intensiver auszuschöpfen, einmal Herr über die Zeit sein!

Als Christen und Zeit-Genossen  aber gestehen  wir uns ein: Ich bin nicht Herr der Zeiten, Gott allein Schöpfer der Zeit, dieser unsichtbaren Macht, die sich im Herbst so sichtbar und spürbar mit aller Macht in der Natur zu Wort meldet. Es ist die Zeit der Farben, aber auch des Welkens, des Fallens. Die Stunden, die verstreichen, sind Sand in meinen Händen, die ich nicht retten kann, oder Perlen auf der Schnur, die Gott bewahrt. Lautlos fließt die Zeit. Sie fließt uns aus Gottes schöpferischen Händen zu. Denn er ist Herr auch der ‚unsichtbaren Welt’, zu der auch der Zeit-Raum gehört. Und er wird fragen: Was hast du mit deiner Zeit gemacht?

Seltsamerweise künden unsere Kirchtürme beides: die mechanisch zu messende Zeit im Stundenschlag der Kirchturmuhren und die Einladung zur Gotteszeit, zum Augenblick der Gnade im Geläut der Glocken: Mitten in der ‚gestundeten’ Zeit feiern wir ‚Auszeit’, gönnen uns nach der Eile der Werkwoche eine schöne lange Weile vor Gott. Wir bitten nicht um mehr Zeit, aber um den wachsen Blick für das, was wir in unserer begrenzten Zeit bewirken können.

Diese Stunde ist eine Art heilige Zeit, eine Gottesstunde, die wir IHM schenken. Der er hat uns diese Prise Zeit geschenkt, ununterbrochen haucht er sie uns zu, damit wir in unserer gewährten Lebenszeit Aus-Zeit feiern. Wir nehmen uns eine Stunde Zeit, um zweckfrei zu feiern oder nachdenklich zu werden, an die End-Zeit zu denken, diese allerletzte Zeitumstellung, durch die wir alle hindurch müssen.

Wir zählen die Jahre „vor“ und „nach“ Christus. Doch wir leben nicht nur „nach“ Christus, wir alle leben „seit“ Christus, leben mit ihm, unserem Zeit-Genossen. Von ihm geht die grundlegende und nicht wieder rückgängig zu machende Zeitumstellung aus: ein wahrer Einschnitt.

Darum fordert diese Gottesdienststunde immer auch die Bereitschaft, dass Christus in meine Zeit einschneidet.

Fürchte ich eine solche Stunde? Könnte eine Stimme laut werden, die meinen Namen ruft? Die will, dass nicht alles beim Alten bleibt, das dieser Kirchenraum zur Lichtung wird, zum Scheideweg, wo Christus mich ganz persönlich anstrahlt und beim Namen ruft und mir ein neues Leben zutraut?

Das wäre eine Zeitumstellung, die diesen Namen verdient, eine Zeitenwende, ein Zeitgewinn. Wenn wir uns darauf einlassen – wir gewinnen mehr als eine Stunde: Wir gewinnen die Ewigkeit. Amen.

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