Liebe Friedensmenschen!
Ich würde mich selbst als Kind des Friedens bezeichnen. Als 63iger Jahrgang bin ich 18 Jahre nach Kriegsende geboren. Mein Vater war zu jung, um noch als Soldat zu wirken, aber ich habe beim Spielen im Zimmer meines Großvaters manchmal Dinge aus seiner Militärzeit mit Hakenkreuz gefunden, aber selten darüber geredet.
Ich bin ein Kind des Friedens. Für die Hippiebewegung war ich ein paar Jahre zu jung, aber ich habe an manchen Demos teilgenommen. Gegen die Stationierung von Pershing 2, gegen den Irakkrieg von Georg Bush, gegen das Wettrüsten.
Mein Engagement für den Frieden wurde genährt durch meine religiöse Prägung durch Jugendverband, Katholikentage und klarer Positionierungen der Kirche für den Frieden.
Ich bin ein Kind des Friedens, weil ich den Dienst an der Waffe verweigern durfte und auch gerne schon für meine ungeborenen Söhne verweigert hätte.
Ich bin ein Kind des Friedens, da ich den Fall des Ostblocks miterleben durfte. Gorbatschow, Perestroika, Solidarnosz und schließlich den Fall der Mauer. Aus ehemaligen Feinden wurden neue Bundesbürger und mit dem Osten konnte man durch Geschäfte den Frieden sichern.
Um das Jahr 2000 habe ich geglaubt, der große Menschheitstraum nach einer friedlichen Welt rückt in greifbare Nähe. Wir sind auf dem Weg in eine tolerante Gesellschaft, in der Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht immer weniger als Ursache von Benachteiligung gesehen wird. Ich glaubte, wir hätten in der Welt nun die Möglichkeit, gemeinsam, die großen Probleme der Menschheit anzugehen, ohne uns gegenseitig zu bekämpfen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich 25 Jahre später mich in einer solchen Bedrohung aus dem Osten gegenübersehe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in so kurzer Zeit eine gesichert rechtsextreme Partei die größte Opposition im Bundestag stellt und von so vielen Menschen gewählt und unterstützt wird. Undenkbar, dass sogar von den großen demokratischen Parteien christliche Werte, wie Toleranz und Weltoffenheit als „Wokeness“ beschimpft werden oder dass es bei jungen Leuten hipp ist, Nazigesänge zu brüllen und sich der Zeichen des NS-Zeit schamlos zu bedienen.
Es war außerhalb meines Vorstellungsvermögens, dass wir so viele bekloppte Autokraten und selbstverliebte Clowns an den Schaltstellen der Macht in der Welt haben und diese mit großer Unterstützung ihrer Bevölkerung uns geradewegs in den dritten Weltkrieg führen. Es war für mich Fiktion, dass wir Waffen in solcher Größenordnung an ein europäisches Land schicken, damit es sich gegen einen Angriffskrieg verteidigt und wir so viele Milliarden Euro in die Rüstung stecken, um dem Machtstreben eines Putin und der Unberechenbarkeit eine Trump etwas entgegenzusetzen. Ich sage euch, diese Situation zerreißt mich innerlich.
Ich würde gerne den 80igsten Jahrestag des Kriegsendes als Tag der Befreiung begehen.
In Gedenken an die Befreiung der Juden, Sinti, Roma; in Gedenken an die Befreiung der Schwulen, der Linken, der politischen Gefangenen; In Gedenken an diejenigen, für die die Befreiung zu spät kam und die Millionenfach ermordet wurden in einer Haltung, die sich heute in unserer Gesellschaft wieder breit macht.
Ich möchte mich gemeinsam mit euch solidarisieren mit denen, die in die Ideologie des Rassismus nicht hineinpassen. Ich möchte mit euch aufstehen und all den Lügen und dem Hass Einhalt gebieten. Und ich möchte mit euch daran arbeiten, dass auch meine Enkel sich noch als Kinder des Friedens fühlen dürfen.
Ulrich Martinschledde