Wahn und Wirklichkeit

Während meines Urlaubs entdeckte ich im Innenhof eines ehemaligen Klosters in Schongau ein wunderschönes Rosenbeet. Alles andere als schön war leider der Anlass, dieses Beet anzulegen. Jede der Rosen blüht für eine der 63 Frauen, die in den Jahren 1589 bis 1592 in Schongau als Hexe verurteilt und hingerichtet worden waren.

Zu Beginn der Neuzeit gab es eine Vielzahl von Krisen, u.a. eine kleine Eiszeit mit katastrophalen Extremwetterereignissen, auf die Missernten und Hungersnöte folgten, pandemische Seuchen wie die Pest und verheerende Kriege. Ganz Zentraleuropa war von einer Art Endzeitstimmung befallen. Die Häufung von Katastrophen machte viele Menschen anfällig für die Deutung, dies wären von Hexen verursachte Schadenszauber. Auf Drängen ihrer Untertanen ließen auch Herrscher, die den Hexenjagden eigentlich skeptisch gegenüberstehen, Prozesse durchführen.

Heute schauen wir mit Schaudern auf diese „finsteren Zeiten“ zurück und fühlen uns dank der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse so viel klüger als die Menschen damals.

Aber ist die Menschheit wirklich klüger geworden? – Der letzte Satz auf der Hinweistafel in Schongau lautet: „Die Suche nach Sündenböcken, blinder Aktionismus und gedankenlose Willfährigkeit sind keine längst überwundenen Erscheinungen, sondern leider so alltäglich wie eh und je.“ 

Aktuell gibt es deutliche Parallelen zu damals: Extremwetterlagen aufgrund des Klimawandels, politische und gesellschaftliche Unruhen weltweit und eine Pandemie.

Und die Medien liefern täglich Berichte darüber, dass wir noch genau so ticken wie unsere Vorfahren: Menschen leugnen Fakten, die den eigenen Ansichten widersprechen und übernehmen ungeprüft solche, die sie stützen – bis hin zu Verschwörungstheorien – egal ob es um Corona, Umweltschutz oder Gesellschaftsfragen geht. Frühere Generationen wussten vieles einfach nicht besser, heute sind einfache Erklärungen attraktiv, weil uns die vielen wissenschaftlichen Erkenntnisse überfordern. Es ist so mühsam, sich zu informieren und noch mühsamer, daraufhin womöglich sein Verhalten zu ändern. Die eigene „Freiheit“ hat für manche mehr Gewicht als die möglicherweise negativen Folgen ihres Verhaltens für andere. Und die Frustration über Einschränkungen oder Benachteiligungen erzeugt Aggressionen. Darum werden eifrig Sündenböcke gesucht, die man für echte oder eingebildete Missstände verantwortlich machen kann, beliebt sind je nach Thema Politiker, Virologen, Geflüchtete, Juden, Moslems, Polizisten, … und die glaubt mancher mit Recht verbal oder tätlich bedrohen und angreifen zu dürfen.

Es ist erschreckend, was sich da an Hass, Abwertung und Verachtung zeigt.

Haben wir also aus der Geschichte wirklich nichts gelernt? – Zum Glück finde ich auch immer wieder Berichte, die mich hoffnungsvoll stimmen:  Wie viele Menschen sich noch geduldig an die Corona-Regeln halten, wie viele sich trotz Rückschlägen und Angriffen für Benachteiligte, für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einsetzen, wie viele sich von Miesmachern und Schreihälsen nicht beeindrucken lassen … hoffen wir, es werden immer mehr!

Armgard Diethelm