Ein besonderer Maibaum

Der Mai ist gekommen – und damit vor allem im süddeutschen Raum auch die Maibäume. Vor zwei Jahren habe ich einen Maibaum der besonderen Art in Bayern fotografiert. Es fand sich damals kein Hinweis auf seinen Anlass oder seine Aussage. Doch als ich das Foto vor einigen Tagen in meinem Handy wiederentdeckte, erschien mir der Maibaum von 2018 geradezu als prophetischer Hinweis auf diesen Mai 2020 unter Corona:

Oben in unerreichbarer Höhe hängt eine Zielscheibe und noch hat kein Pfeil sie getroffen. Wenn ich in den Medien die weltweiten Infektionszahlen und Sterberaten verfolge, frage ich mich schon manchmal, wann und ob es überhaupt gelingen wird, die Corona-Pandemie einzudämmen. Treffen Maßnahmen wie Lockdown, Maskenpflicht, Abstandsregelungen … „ins Schwarze“ oder erreichen wir damit das Ziel nicht?

Der leere Werkzeugkoffer erinnert ja schmerzhaft daran, dass es bisher weder einen Impfstoff noch Medikamente gegen das Virus gibt und an vielen Orten der Welt Schutzausrüstungen und medizinische Versorgung Mangelware sind. Auf die besonders gefährdeten Alten und Kranken weist die Krücke neben dem Werkzeugkoffer hin. Und Eimer und Besen machen deutlich, dass es jetzt auf besondere Hygiene ankommt, sowohl beim persönlichen Händewaschen als auch in Pflegeeinrichtungen, Schulen, Restaurants …

Die menschliche Figur mit der Deutschlandfahne ist festgebunden an ihrem Platz – so wie auch wir möglichst zuhause bleiben sollen und Grenzen geschlossen sind. Das gibt den einen ein Gefühl von Sicherheit, während sich andere in ihrer Freiheit beschnitten sehen und dagegen protestieren.

Welches ist der richtige Weg aus der Krise? Die Figur ist auf einem Auge blind, sie sieht also genau wie wir alle nur einen Teil der gegenwärtigen Realität. Die einen betrachten die Situation in Deutschland mit dem Virologenauge, die anderen mit dem Wirtschaftsauge, dem familienpolitischen Auge, dem Fußballauge …  – und es steht zu befürchten, dass ganz schnell wieder einige ihr eigenes Süppchen in dem schönen roten Topf mit den Blümchen kochen werden, wenn es uns als Gesellschaft nicht gelingt, die berechtigten Interessen aller, auch der Schwachen, im Blick zu behalten.

Aber was sind berechtigte Interessen? Welche Diskussionskultur entwickelt sich zwischen verschiedenen Interessengruppen? Wie erklären Entscheidungsträger ihre Beschlüsse und oder Bedenken so verständlich, dass es möglichst alle nachvollziehen können?  Mit diesem Maibaum hat jemand gewagt, ein Statement zu setzen. Sicher gab es Reaktionen darauf und wahrscheinlich waren nicht alle positiv. Aber im besten Fall gab es interessante Diskussionen und die Nachbarn haben sich dadurch besser kennengelernt.

So wie an diesem Maibaum eine Menge Schrott hängt, so finden wir im Moment auch eine Menge Schrott in Meinungsäußerungen zur Corona-Krise – Fake News, Verschwörungstheorien, gefährliche Ratschläge … Nicht alle kommen plump und offensichtlich daher und erschreckenderweise stoße ich auch bei Menschen darauf, bei denen ich es nie erwartet hätte. Gelingt es mir, darüber mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen oder verschließe ich nur meine Augen davor? Träume ich davon, dass bald alles wieder „schön“ ist, oder schaue ich auch bei hässlichen Dingen genau hin, um sie besser zu verstehen?

Armgard Diethelm